1.
Die Waldorfschule bemüht sich um eine anthropologisch orientierte Erziehung, das heißt, sie stellt Stundenplan, Unterrichtsinhalte, Schulraumgestaltung usw. alters-bezogen auf die jeweils erwachenden Fähigkeiten, also auf den Entwicklungsstand des jungen Menschen ein.
Die Anthropologie Rudolf Steiners bildet da eine Leitlinie. Hiernach durchläuft jeder Mensch bestimmte, grundlegend unterschiedliche Entwicklungsphasen, die naturgegeben und in tendenziell deutlicher Bindung an das Lebensalter auftreten. Erziehung und Unterricht setzen hier an, um die von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt spezifischen Entwicklungs- und Individualisierungsprozesse anzuregen.

2.
Der Unterrichtsstoff wird deshalb also nicht hauptsächlich zur Faktenvermittlung gelehrt. Fakten fallen ohnehin großenteils dem Vergessen anheim. Vielmehr wird mit dem Stoff als Mittel die individuelle Entwicklung so gefördert, dass das eigene Erleben sich abklärt, die Wahrnehmung sich differenziert, die Urteilskraft und das Denkvermögen sich entwickeln, aber auch manuelle und künstlerische Fähigkeiten sich bilden können.


So erhält der Schüler neben dem üblichen, vordergründig mehr das intellektuelle Vermögen ausbildenden Unterricht einen verstärkten Handarbeits-, Handwerks- und künstlerischen Unterricht und in der Oberstufe zusätzlich Informatik, Laborunterricht in Chemie und Physik, außerdem Projekte in Form von 2- bis 3-wöchigen Praktika. Zu den künstlerischen Fächern, die ab Klasse l unterrichtet werden, gehört übrigens die auf Anregung von R. Steiner zu Beginn dieses Jahrhunderts neu entwickelte Bewegungskunst „Eurythmie". (Siehe IV.)
Man könnte diese Grundzüge mit dem Schlagwort zusammenfassen: „Entwicklung alles im Menschen Veranlagten durch Prozesse".

3.
Konsequent lebensalterbezogene Pädagogik ist natürlich nur möglich, wenn die Schüler einer Klassenstufe – im Rahmen einer Toleranz – gleichaltrig sind. Das ist gewährleistet, wenn es kein „Sitzenbleiben“ gibt.
Die Waldorfschule kennt keine Zensuren und den damit verbundenen Schulleistungsdruck. Es wird nicht nach irgendeinem Leistungsprinzip selektiert, sondern die Gleichaltrigen, die eine Mischung aus verschiedenen sozialen Schichten und Leistungsmöglichkeiten bilden, werden gemeinsam geführt und individuell gefördert.
Mit zunehmendem Schulalter differenzieren sich die Begabungen aus, die „Binnendifferenzierung“ als Einzelförderung wird stärker, und je nach Fachbereich und Unterrichtsform geschieht der Unterricht auch in kleineren Gruppen. Der Klassenverband als solcher bleibt aber erhalten. Die Schülerinnen und Schüler einer Klasse durchlaufen also als eine kleine Gemeinschaft die ganze Schulzeit, was eine positive sozialerzieherische Wirkung zeigt.
So sitzen also in ein und derselben Klasse junge Menschen mit unterschiedlichsten Begabungsrichtungen und Begabungsmaßen nebeneinander, und sie lernen miteinander und voneinander und unterstützen sich dabei gegenseitig.

4.
Die Waldorfschule ist eine „Leistungs“schule etwa im Sinne von: „Jeder gebe sein Bestmögliches“. Man kann allerdings eine umfassende Leistungsbeurteilung nur auf einen beim einzelnen Menschen individuell abgelaufenen Prozess beziehen und nicht auf eine punktuelle Abfrage-Situation, der ein Nummernschema zugeordnet wird. Zum anderen muss man die individuelle Leistungsmöglichkeit als Bezugspunkt einer Beurteilung wählen, um einem Menschen in dieser Beziehung gerecht werden zu können, sonst hat die Beurteilung keinen pädagogischen Wert.
Dass die Waldorfschule diese Grundauffassung nun seit gut 90 Jahren im pädagogischen Alltag umzusetzen bestrebt ist, zeigt ihre Aktualität auch daran, dass sich in der allgemeinen Bildungslandschaft der letzten Jahre immer stärker die (längst nicht neue!) Auffassung durchsetzt, dass das Lernen in Prozessen, der - nur im Prozessualen zu leistende - „Kompetenz“erwerb, als das eigentlich Wertvolle zu betrachten ist. Und dieser lässt sich eben treffend beurteilen.
Das soll auch in den verbal abgefassten Jahreszeugnissen seinen Niederschlag finden. Sie enthalten für jedes Unterrichtsgebiet eine Charakterisierung, die ein möglichst vollständiges Bild der schulischen Entwicklung im abgelaufenen Schuljahr geben soll.
Eine grundsätzliche Bemerkung möge das hier beschriebene Anliegen erhellen:
Die Waldorfschulen sehen ihre hauptsächliche Zielsetzung darin, dass der Erwachsene, in welchem Beruf er auch immer tätig ist, aufgrund einer - weit über das Rein-Intellektuelle hinaus angelegten - Bildung mit möglichst reich und vollständig entwickelten Anlagen, Begabungen und Fähigkeiten im Leben stehen kann.