Man kann zwei entgegen gesetzte Richtungen von Erziehung und Unterricht charakterisieren. Sie hängen vom Menschenbild ab, das man als Akteur hat. Die eine Richtung lässt sich verdeutlichen durch die Fragen:

- Was bestimmt heute unsere Gesellschaft?
- Was für wie qualifizierte Menschen brauchen wir dafür?

Unterrichtsprogramme, die sich hieran orientieren, richten sich nach hochgerechneten Trends und gegenwärtigen Bedarfslagen, folgen also dem Nützlichkeitsprinzip als oberstem Gebot.
Zur Erläuterung dieser Haltung hat jemand etwas bissig „den Heranwachsenden als leere Tafel, die es zu beschreiben gilt", bezeichnet. Diese Richtung geht also tendenziell den Weg der Konditionierung und Anpassung.

Die andere Richtung vertritt die Ansicht: Es ist nicht die Aufgabe der Erziehung, für eine bestimmte Gesellschaft zu erziehen, oder darauf hin, was von dieser Gesellschaft als notwendig empfunden wird. Vielmehr ist es an der Natur des Menschen abzulesen, was die Gesellschaft braucht, um sich ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit entsprechend gesund entfalten zu können: „Die Gesellschaft wird sich in Zukunft nach dem gestalten müssen, was die heranwachsende Generation sich aus ihrem Bewusstsein als Ziel setzt."(R. Steiner) Nur so kann eine freie Gesellschaft entstehen, nur so können durch das frische Leben immer wieder die Verkrustungen der alten Formen zerbrochen werden und neue Formen entstehen.
Der zweiten Richtung fühlt sich die Waldorfpädagogik stärker verpflichtet als der ersten. Das scheint auch unter dem folgenden Gesichtspunkt sinnvoll:
Sieht man auf die globale Entwicklungsdynamik der letzten Jahre bis Jahrzehnte, so zeigt sich, dass die erstgenannte Richtung der Erziehung wohl viel zu kurz gegriffen ist. Man weiß heute noch weniger sicher als früher, welche Fähigkeiten der Mensch zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben besonders stark oder neu entwickeln muss. Daher scheint es günstig, gerade im jungen Alter alle im Menschen veranlagten Möglichkeiten zur Entwicklung zu bringen.